OffTopic: sehr guter Kommentar von Heise Online

28.05.2014 - Nach jedem warmen Frühjahr wieder dieselbe Leier ...
Motorradtote ohne Hirn

Mann, Mann, Mann, jedes Jahr der gleiche Mist. Wenn es zum Jahresanfang ? wie dieses Jahr ? etwas wärmer als im Vorjahr war, folgen bald die Horrormeldungen in den Lokalzeitungen: 50 Prozent mehr Motorradtote! 100 Prozent mehr Motorradtote! 200 Prozent mehr! 1000 Prozent mehr! Einerseits könnte man sich die verbliebenen grauen Haare schon darüber ausreißen, dass die Sample-Größe oft genug einstellig war. Wenn in einem Jahr in Gemeinde X einer stirbt und im Jahr darauf zwei sterben, dann langt das für skandalträchtige 100 Prozent mehr, obwohl es jeder seriöse Statistiker als Rauschen verbuchen müsste. Dass aber der wichtigste Faktor komplett unter den Tisch gekehrt wird, das verbuche ich sowohl bei der Polizei als auch bei der Lokalpresse als pure Niedertracht. Denn die Zahl der Motorradtoten liegt primär schlicht am guten Wetter.
Gutes Wetter, schlecht in Übung

Ein Autofahrer versteht vielleicht nicht sofort, was gutes Wetter mit Verkehrstoten zu tun haben soll. Einkaufen oder zur Arbeit muss er ja bei jeder Witterung, und gutes Wetter macht die Fahrt nur sicherer. Aber Motorrad fährt man nicht, weil man muss, sondern weil man will. Plötzlich wird Wetter ungemein wichtig. Die Polizei weiß ganz genau, dass ein sonnig-warmer Tag genügt, um alle wintermüden Kradisten auf einmal aus ihrem Schlaf zu wecken. Mit viel Motivation, aber winterbedingt wenig Übung stürzen sie sich in die Kurven und manchmal auch vom Bock. Mehr Leute fahren mehr Motorrad mit weniger Fertigkeit, also passieren mehr Unfälle. Deshalb informiert die Polizei jedes Jahr zum Saisonbeginn, geht auf Infoveranstaltungen, übt sich generell in informativer Hilfestellung. Ihr ist also kristallklar, worum es geht. Nur wenn dann die Opferzahlen reinkommen, stellen sich alle blind und blöd. Oh! Wie kann das sein?! Gutes Wetter und mehr Stürze? Nein! Doch! Ooh!

Die Polizeipresseabteilung verwebt daraufhin ihre Standard-Textbausteine zur üblichen Meldung: ?Motorradtote vervielfacht! Wir ermahnen! Wir kontrollieren außerdem Auspuffe.? Ja, wirklich: Die Antwort dieses Jahr ist wieder verstärkter Kontrolleinsatz gegen Brülltüten. Von mir aus könnten sie die Brülltüten alle gesammelt verschrotten, aber lassen wir die Kirche doch bitte im Dorf: Ein lauter Auspuff hat noch keinen umgebracht. Es ist also Aktionismus, befreit von Sinn, unbelastet von Fakten, bar jeder Wirkung.

Wenn Verkehrspolizisten mich anjammern, dass sie zu wenig Zeit für zu viel Arbeit haben, tue ich mir schwer mit Mitleid. Solange es die Zeit gibt, so einen Kinderfasching, so einen Riesenaufriss um Nichts zu veranstalten, kann die Truppe noch nicht am Leistungsanschlag operieren. Gebt lieber der Kripo und der Bundespolizei mehr Ressourcen.
Flüssigkeiten für ZDF-Motorradraserdokuteams!

Doch dankbar greift die Lokalpresse die Verkehrspolizeipressemeldung auf, gerne auch Arbeit sparend geguttenbergt. Wer als Autofahrer die Zeitung liest, muss denken, die Motorradfahrer stürzen sich dieses Frühjahr wie Lemminge in den Neckar. 100 Prozent mehr! Das sind ja Dings, hundert Prozent, ein Faktor gar! Mindestens. Von der Lokalpresse geht es ins Fernsehen. Vom Fernsehen wird immer behauptet, nur Dumme konsumierten das. Ich bin mittlerweile eher der Ansicht, nur Dumme produzieren das. Jedes Jahr dieselbe Motorradraserdoku im ZDF. Warum jedes Jahr ein Team loszieht, um Aufnahmen zu machen, bleibt schleierhaft, weil die Geschichte so gleich bleibt, dass ich als Fernsehverantwortlichkeitsdummer längst Archivaufnahmen für zwanzig Jahre in Auftrag gegeben hätte. Wer je mit einem ZDF-Motorradraserdokuteam in Kontakt geraten sollte, dem empfehle ich folgende in der Praxis bewährte Vorgehensweise: Zu allem ?Nein!? sagen und das abfahrende Auto zum Abschied mit Bier übergießen. Wobei, vielleicht das Bier weglassen. Ist schad drum. Es gibt ja auch kostenlose Flüssigkeiten vergleichbarer Aussagekraft.

Bisher vergeblich warten wir darauf, dass in einem kalten Jahr die Polizeipresse freudig verkündet: ?Motorradtote halbiert! Kontrollen für zehn Monate ausgesetzt!? oder wenigstens ein: ?Wir veranstalten diesmal unsere Auspuffkontrollen zum Saisonbeginn ohne hirnverbrannte Ausrede!? Stattdessen wird das Gebetsrad der selbst erfüllenden Prophezeiung angeschubst: ?Halb so viele Motorradtote! Auspuffkontrollen vom letzten Jahr zeigen Wirkung!? Das ist sehr schön einfach für die Polizei, weil sie jedes Mal dasselbe fordern kann: mehr Kontrollen. Entweder, weil zu viel passiert ist, also dringend mehr Kontrollen nötig sind. Oder weil sie nachweislich so supertoll wirken, also mehr davon, denn mehr ist mehr. Die selbst auferlegte Beschäftigungstherapie können Beamte überdies als ?Arbeit? anführen, wenn sie sich bei den bösen Motorradschreibern über zu viel Beschäftigung beschweren. Das Wetterproblem könnte also eine Wetterlösung haben: Wenn der Herr es endlich mal Hirn regnen lassen würde.

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